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Nachruf auf Professor i.R. Dr. Winfried Thiel

06.11.2024 Evangelisch-Theologische Fakultät

© TK / Dekanat

Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum trauert um ihr langjähriges Mitglied Professor i.R. Dr. Winfried Thiel (1940-2024). Thiel war von 1992 bis zu seinem Ruhestand 2005 Lehrstuhlinhaber für Altes Testament mit dem Schwerpunkt Exegese und Geschichte Israels.

1940 in Cottbus geboren entschied er sich unter den Bedingungen der damaligen DDR für das Studium der Theologie, zunächst am Sprachenkonvikt und später an der Humboldt-Universität in Berlin. Dort war er Assistent bei Siegfried Herrmann, nach Herrmanns Wechsel nach Bochum dann bei Karl-Heinz Bernhardt. An der Humboldt-Universität promovierte er mit einer wegweisenden Arbeit zur Redaktionsgeschichte des Jeremiabuches. Seine über 1000 Seiten starke Habilitationsschrift „Die soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit“ konnte nur in Auszügen erscheinen.

1982 folgte Thiel von Ost-Berlin aus einem Ruf der Philipps-Universität nach Marburg – unter den damaligen politischen Bedingungen ein hochriskanter Schritt. 1992 erfolgte die Berufung als Nachfolger seines akademischen Lehrers Siegfried Herrmann nach Bochum, nachdem er zuvor einen Ruf nach Bonn abgelehnt hatte.

Thiels Qualifikationsarbeiten, denen eine große Fülle weiterer Veröffentlichungen bis ins hohe Alter hinein folgte, beschreiben seine Interessensgebiete – die Prophetie mit besonderem Blick auf die Redaktionsgeschichte sowie die geschichtliche und sozialgeschichtliche Entwicklung des antiken Israel, verbunden mit besonderem Augenmerk auf das deuteronomistische Geschichtswerk, dessen Wert als historische Quelle er durchaus schätzte. In beidem folgte er seinem Lehrer Herrmann, der sich wiederum in der Nachfolge A. Alts verstand. Alt und vor allem die Arbeiten M. Noths haben Thiels eigene Arbeit stark beeinflusst. So war es nur folgerichtig, dass die Herausgeber des Biblischen Kommentars ihm die Fortsetzung des von Noth begonnen Königekommentars anvertrauten und ihn später selbst in den Herausgeberkreis beriefen.

Thiels umfassende Kenntnisse des Alten Vorderen Orients und seiner (Religions-)Geschichte, verbunden mit einer profunden Kenntnis der altorientalischen Sprachwelt, weisen darauf hin, dass er die Auslegung des Alten Testaments konsequent in diesem Horizont verstanden hat. Folgerichtig betreute er über viele Jahre hinweg den alttestamentlichen Teil der Orientalistischen Literaturzeitung.

Wer Winfried Thiel kennenlernte, konnte die starke Sachbezogenheit seiner Arbeit beobachten, die ihren Ursprung vor allem in der eigenen Biographie des Theologen unter den ideologischen Bedingungen der damaligen DDR hatte. Er verstand sich zuallererst als Anwalt der alttestamentlichen Überlieferung und ihrer Schöpfer und Tradenten. In seinen literarischen und historischen Urteilen wog er sorgsam ab. Das war für ihn zur Selbstverständlichkeit geworden, „weil es dem Selbstverständnis des größten Teils des Alten Testaments entspricht und nicht von außen kommende Interpretationsschemata, seien es dogmatische, seien es philosophische, seien es thematische nach willkürlicher Auswahl, an die Texte heranträgt und sie dadurch ihres eigenen Wortes beraubt.“ (W. Thiel, Alttestamentliche Wissenschaft in Selbstdarstellungen, hg. von S. Grätz u. B.U. Schipper [2007] S. 295)

Bei aller Sachlichkeit war Thiel ein äußerst freundlicher und auf Ausgleich bedachter akademischer Lehrer und Kollege, den neben seiner umfassenden Fachkenntnis vor allem eine große Begeisterung für klassische Musik auszeichnete, auch hier verbunden mit immer wieder erstaunenden Fachkenntnis. So hat er sich im Kreis der Kolleginnen und Kollegen sowie der alttestamentlichen Fachwelt ein hohes Ansehen erworben, das nicht zuletzt auch in seinem immer bescheidenen und stets interessiert zugewandtem Auftreten begründet lag.  

Die Evangelisch-Theologische Fakultät wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Prof. Dr. Hanna Roose, Dekanin