Forschungsschwerpunkte am Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre
I. GRUNDFRAGEN DER ETHIK UND SOZIALETHIKEthik als eigenständige theologische Disziplin sowie insbesondere die Sozialethik sind relativ junge Disziplinen der Systematischen Theologie, nicht zuletzt, da sie den Umgang mit moralischer und religiöser Vielfalt als Herausforderung zu reflektieren haben. Erst seitdem die Muster der Lebensführung im privaten wie im öffentlichen Bereich sich nicht nicht mehr als selbstverständlich (als "naturgegeben" oder unmittelbar "gottgewollt") vermitteln lassen, wird die ethische Reflexion zur Aufgabe. Ethische Diskurse haben maßgeblich religiöse Selbstverständigungsdebatten und Konflikte während des 20. und im beginnenden 21. Jahrhundert in der Theologie und den Kirchen (darüber hinaus auch in anderen Religionsgemeinschaften) geprägt. Grundlegend ist in diesem Sinn ein Verständnis von Ethik als eine wissenschaftliche Reflexion sowohl über das empirisch aufweisbare wie über das normativ proklamierte Ethos im Sinn einer kritischen Theorie der Lebensführung, deren Relevanz für die Religionskultur als Beitrag zur Entwicklung der Systematischen Theologie zu verstehen ist.
Die Sozialethik als Reflexion der Rahmenbedingungen sozialen Handelns fragt einerseits nach dem Einfluss gesellschaftlicher Bedingungen auf das individuelle wie das gesellschaftliche Handeln und diskutiert andererseits Möglichkeiten der Gestaltung öffentlichen Lebens durch die Impulse der christlichen Botschaft. Sie tut dies im Dialog mit den Humanwissenschaften (Soziologie, Psychologie u.a.) und versucht, die Impulse der christlichen Tradition für gegenwärtige Herausforderungen fruchtbar zu machen.
Literatur:
Jähnichen, Traugott u.a. (Hrsg.): Jahrbuch Sozialer Protestantismus (Bd. 1-9), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007-2016.
Hübner, Jörg / Eurich, Johannes / Honecker, Martin / Jähnichen, Traugott / Kulessa, Margot / Renz, Günther (Hrsg.): Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart: Kohlhammer 2016.
Wustmans, Clemens (Hrsg.): Öffentlicher Raum. Theologische, religionswissenschaftliche und ethisch-normative Dimensionen (SEM 4), Kamen: Spenner 2016. II. WIRTSCHAFTSETHIKDas Wirtschaftssystem ist zu dem dominierenden gesellschaftlichen Teilsystem geworden. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit das gesellschaftliche Niveau der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen und damit den allgemeinen Lebensstandard weitgehend bestimmt. Ebenso grundlegend wird die individuelle Lebensführung durch Beruf und Arbeit geprägt. Schließlich sind alle funktional ausdifferenzierten Teilsysteme der Gesellschaft zur Sicherstellung ihrer Leistungen auf Organisationen (und damit in der Regel auf Geld) angewiesen. Die Fragen, ob überhaupt (vgl. die Debatten um die sog. Eigengesetzlichkeit wirtschaftlichen Handelns) und inwiefern (u.a. auf welcher Akteursebene und wie?) wirtschaftliches Handeln ethisch geprägt werden kann, gehören zu den Grundfragen jeder Wirtschaftsethik.
Theologische Wirtschaftsethik versucht, die Perspektive des theologisch reflektierten Menschenbildes und die darauf basierenden grundlegen Normen der christlichen Tradition angesichts aktueller wirtschaftsethischer Herausforderungen (Globalisierungsprozesse, Nachhaltigkeit, Verteilungsfragen u.a.) fruchtbar zu machen.
Literatur:
Jähnichen, Traugott: Wirtschaftsethik. Konstellationen - Verantwortungsebenen - Handlungsfelder, Stuttgart: Kohlhammer 2008.
Jähnichen, Traugott: Wirtschaftsethik, in: Huber, Wolfgang u.a. (Hg.): Handbuch der Evangelischen Ethik (HEE), München: C. H. Beck 2015, 331-400. III. TIERETHIKDie Tierethik bemüht sich traditionell um die Entwicklung und Vertiefung der die Mensch-Tier-Beziehung betreffenden ethischen Paradigmen und daraus resultierenden Normen. Vor allem in der philosophischen Ethik seit den 1970er Jahren ein Thema, nehmen Human-Animal-Studies bzw. Animal-Studies seit Beginn der 2000er Jahre transdisziplinär einen breiten Raum ein, so dass mancherorts von einem "Animal Turn" die Rede ist. Seit Beginn des neuen Jahrtausends liegen auch eigenständige theologische Entwürfe zur Tierethik vor.
In der theologischen Ethik herrscht ein gewisser Konsens, dass Tiere als Teil der moralischen Wertegemeinschaft zu beachten sind, jedoch nicht als Akteure auftreten. Theologische Tierethik bleibt also i.d.R. anthropozentrisch, jedoch in gemäßigter Form. Sie teilt die Kritik an einem moralischen Anthropozentrismus, sieht jedoch, z.B. in Verweis auf das Modell der Verantwortungsethik, den Menschen in einer Sonderrolle. Als Kriteriologie der Verantwortung kann dann im Verweis auf biblische Motive der Schöpfungsverantwortung und der creatio continua beispielsweise der Erhalt von Biodiversität zum Maßstab menschlichen Handelns gegenüber Tieren werden.
Neben einer Tagung im November 2011 und regelmäßigen Lehrveranstaltungen samt Exkursionen entstanden am Lehrstuhl eine Dissertation und zahlreiche Abschlussarbeiten von Studierenden zum Thema der Tierethik.
Literatur:
Wustmans, Clemens: Tierethik als Ethik des Artenschutzes. Chancen und Grenzen, Stuttgart: Kohlhammer 2015.
Jähnichen, Traugott / Wustmans, Clemens (Hrsg.): Tierethik. Biblisch-historische Grundlagen - normative Perspektiven - aktuelle Herausforderungen (SEM 2), Kamen: Spenner 2012.IV. DIAKONIK: DIAKONIEWISSENSCHAFT UND -GESCHICHTEDie Entwicklung der Diakonie ist eine ausgesprochene Erfolgsgeschichte des neuzeitlichen Protestantismus. Basierend auf Ansätzen zur Bekämpfung der Massenarmut und zur Lösung der sogenannten Sozialen Frage im Gefolge der Industrialisierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich die evangelische Diakonie in Deutschland zu einem der größten Arbeitgeber und zu einem zentralen Akteur im Sozialsystem der Bundesrepublik entwickelt. Während die evangelischen Landeskirchen seit den 1960er Jahren deutliche Mitgliederverluste verkraften mussten, konnte die Diakonie (ebenso wie die Caritas) ihre Stellung in diesem Zeitraum weiter ausbauen und konsolidieren. Am Lehrstuhl werden seit über zehn Jahren kontinuierlich diakoniegeschichtliche Themen (finanziert durch Drittmittel) bearbeitet, aktuell Studien über einzelne diakonische Großeinrichtungen. Daneben werden theologische und sozialethische Grundfragen der Diakonie in Forschung und Lehre thematisiert.
Literatur:
Jähnichen, Traugott / Henkelmann, Andreas / Kaminsky, Uwe / Kunter, Katarina: Abschied von der konfessionellebn Identität? Diakonie und Caritas in der Modernisierung des deutschen Sozialstaates seit den 1960er Jahren, Stuttgart: Kohlhammer 2012.
Jähnichen, Traugott / Kaminsky, Uwe / Lukas, Rainald (Hrsg.): Fürsorge - Beratung - Empowerment: Zur Geschichte der diakonischen Ausländersozialbetreuung für griechische Migranten (SEM 3), Kamen: Spenner 2014.
Damberg, Wilhelm / Jähnichen, Traugott (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen als Herausforderungen sozialkirchlichen Handelns, Stuttgart: Kohlhammer 2015.
Jähnichen, Traugott / Nagel, Alexander-Kenneth / Schneiders, Katrin (Hrsg.): Religiöse Pluralisierung als Herausforderung der konfessionellen Wohlfahrtsverbände, Stuttgart: Kohlhammer 2015.V. KIRCHLICHE ZEITGESCHICHTE (SCHWERPUNKTE: SOZIALER PROTESTANTISMUS UND REGIONALGESCHICHTE)Die Entwicklungen von Theologie und Kirche sind ohne ihren zeitgeschichtlichen Kontext nicht zu verstehen. Insofern gehört die kritische Erarbeitung der geschichtlichen Traditionen, speziell der Zeitgeschichte, zu den wesentlichen Voraussetzungen systematisch-theologischen Arbeitens; speziell gilt dies in der Ethik, die sich jeweils neu auf Grund des sozialen, des technischen oder des kulturellen Wandels herausgefordert sieht. Somit gehört die Erarbeitung von Überblicken zur Geschichte der Ethik und Sozialethik in Forschung und Lehre zu den Kernaufgaben des Lehrstuhls. Dies wird im Blick auf zwei Aspekte der Zeitgeschichte schwerpunktmäßig entwickelt: Die Geschichte des Sozialen Protestantismus (die Diakoniegeschichte ist hier ein wesentlicher Teilbereich) reflektiert die Erfahrungen, wie der Protestantismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Herausforderungen von Industrialisierung, Migrationsprozessen, Verstädterung und damit verknüpft der Sozialen Frage reagiert hat. Diese allgemeinen Entwicklungen lassen sich wie in einem Brennglas exemplarisch anhand der Kirchen- und Religionsgeschichte des Ruhrgebiets studieren. In diesem Sinn besteht eine enge Zusammenarbeit u.a. mit dem
Verein zur Erforschung der Kirchen- und Religionsgeschichte des Ruhrgebiets und der
Hans-Ehrenberg-Gesellschaft.
Literatur:
Basse, Michael / Jähnichen, Traugott / Schroeter-Wittke, Harald (Hrsg.): Protestantische Profile im Ruhrgebiet. Fünfhundert Lebensbilder aus fünf Jahrhunderten, Kamen: Spenner 2009.
Jähnichen, Traugott / Jelich, Franz-Josef (Hrsg.): Sonntagskirche und Alltagswelt. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus im Ruhrgebiet, Forum Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur, Essen: Klartext 2009.
Jähnichen, Traugott: Religiöse Lebensführung in der Moderne - Ethische Diskurse im Zentrum religiöser Selbstverständigungsdebatten und Konflikte, in: Hölscher, Lucian / Krech, Volkhard (Hrsg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Bd. V/1, Paderborn: Schöningh 2016.
Kirche im Revier, 29. Jg./2016. Die Zeitschrift, herausgegeben vom Verein zur Erforschung der Kirchen- und Religionsgeschichte des Ruhrgebiets e.V., informiert über Geschichte, Leben und aktuelle Entwicklung der Kirche im Ruhrgebiet (erscheint in der Regel einmal pro Jahr, ergänzt durch unregelmäßig erscheinende Sonderausgaben).VI. INTERKULTURELLE THEOLOGIEDurch den Kontakt zu und die Unterstützung von Doktoranden aus der Ökumene (Südkorea, Ruanda, Kamerun u.a.) organisiert der Lehrstuhl seit 2012 regelmäßig Lehrexkursionen mit Studierenden nach Zentralafrika (Ruanda, Kamerun). Themen waren und sind u.a. der interreligiöse Dialog zwischen traditionellen Religionen, Christentum und Islam, die Interkulturelle Theologie der Nord-Süd-Ökumene, die Beschäftigung mit den Hintergründen und Konsequenzen des Genozids in Ruanda sowie die Frage nach Impulsen der Theologie Dietrich Bonhoeffers für Versöhnung und Gerechten Frieden im afrikanischen und im europäischen Kontext. Zuletzt wurde im Februar 2016 eine Exkursion nach Ruanda zum Thema "Reformation und Afrikanische Theologie" organisiert. Kernstück des Aufenthalts war eine fünftägige Konferenz zum Thema „African Theologies and the impact oft Reformation“, passend zum Thema des Jahres 2016 innerhalb der Reformationsdekade, „Reformation und die Eine Welt“. Viele Studierende haben ihre Erfahrungen bereits zum Anlass der Ausarbeitung von Seminararbeiten und insbesondere von Abschlussarbeiten genutzt.
Literatur:
Bedford-Strohm, Heinrich / Bataringaya, Pascal / Jähnichen, Traugott (Hrsg.): Reconciliation and Just Peace. Impulses of the Theology of Dietrich Bonhoeffer for the African and the European Context, Zürich: Lit 2016.Projekt im Rahmen des Lehrstuhls: Empirische Untersuchung über die Evangelisch-lutherische Gemeinde deutscher Sprache in Namibia heute – mit Fragen zu Versöhnung, Dialog und/oder Apartheid
Dr. Barbara Gierull, Dipl.-Theol.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen des Forschungsschwerpunktes: Interkulturelle Theologie / Ökumene. Sie führt ein wissenschaftliches Projekt über aktuelle ökumenische Dialog- und Versöhnungsbereitschaft im postkolonialen und unabhängigen Namibia mit Fokus auf die deutschsprachige ev.-lutherische Gemeinde (DELK/GELC) vor Ort durch.
GA 7/154
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Fax: +49-234-32-14106
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